Kastanienallee 12
10435 Berlin
Die fehlgeschlagenen Berufungen Kleins nach Berlin um 1890
Anhang: Ein Brief Kleins an Friedrich Althoff vom 6.Januar 1892
Zielstellung
Der maßgebliche Anteil Felix Kleins (1849-1925),
des bedeutenden deutschen Mathematikers und Wissenschaftsorganisators,
am Aufbau des Göttinger Zentrums der Naturwissenschaften
und Mathematik um 1900 ist aus der Literatur [1] gut bekannt. Insbesondere
wird in diesen Veröffentlichungen auch Kleins Zusammenarbeit
mit dem einflußreichen Berliner Ministerialdirektor im für
die Hochschulen verantwortlichen Preußischen Kultusministerium,
Friedrich Althoff [2] (1839-1908), zwischen 1885 und 1907 gewürdigt.
Das Standardwerk von K.-R.BIERMANN [3]gibt die in Hinblick auf die
Gesamtsituation in Deutschland notwendige Ergänzung für
die Entwicklung der Mathematik an der Berliner Universität
zur gleichen Zeit. In diesem Buch wird unter anderem die institutionelle,
stilgebundene und persönliche Konflikt- und Konkurrenzsituation
zwischen Göttingen und Berlin anhand negativer Urteile Berliner
Mathematiker über Klein beschrieben.
Im folgenden soll nun unter maßgeblicher Verwendung der kurzen Kleinschen Autobiographie von 1923 und der (postum erschienenen) [4] Kleinschen "Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19.Jahrhundert" (1926) sowie unter Hinzuziehung unbekannter oder wenig bekannter Archivquellen Kleins Sicht auf die Berliner Universitätsmathematik erörtert werden. Eine besonders wertvolle, bisher weitgehend unbekannte Quelle ist ein im Anhang publizierter Brief Kleins an Althoff vom 6.Januar 1892, in dem sich Klein anläßlich der bevorstehenden Neuberufungen detailliert über das "an der Berliner Universität in den letzten Jahren herrschende mathematische System" äußert. Dieser Brief illustriert in mehrfacher Hinsicht die Kleinschen Konzeptionen für die weitere Entwicklung der Mathematik in der deutschen Monarchie um die Jahrhundertwende und verdient eine gründliche Auswertung in einer noch zu schreibenden Klein-Biographie [5]. Angesichts der von BIERMANN [6] angemerkten Tatsache, daß nach 1892 mit der schließlich erfolgenden Berufung von Hermann Amandus Schwarz (1843-1921) und Georg Frobenius (1849-1917) in Berlin eine Art "Postklassik" einsetzte, die sich mit der vorhergehenden "klassischen" Periode qualitativ nicht messen lassen konnte, ist Kleins Brief zunächst wichtig für die Beurteilung der Ursachen, die zu diesem relativen (und auch vorübergehenden) Niedergang führten. Der Brief Kleins an Althoff diskutiert auch einige notwendige pädagogische Voraussetzungen für die Wiederbesinnung der ("reinen") Universitätsmathematik auf die Anwendungen, ein Problem, das in der Kleinschen Reform [7] seit spätestens 1888 zweifellos zentral war. Dieses Problem wurde damals von Klein und anderen nicht zuletzt auch im internationalen Kontext und Vergleich, insbesondere unter Konkurrenzgesichtspunkten, gesehen. Besondere Bedeutung für Kleins Rolle als "Modernisierer" der deutschen Wissenschaft um 1900 hatten seine Verbindungen zu seinen zahlreichen amerikanischen Schülern [8], Verbindungen, die Klein durch seine USA-Reisen von 1893 und 1896 auch auf dortige Ingenieurs- und Physikerkreise erweitern konnte[9]. Insofern ist auch das Anwendungsproblem im Hintergrund der Argumentation des vorliegenden Beitrages präsent[10], dem es aber in erster Linie um Kleins Ansichten zum Verhältnis von nationaler und internationaler mathematischer Kommunikation geht. Das Jahr 1892 findet Klein auch noch ziemlich am Anfang seines Reformprojektes und noch keineswegs in der Rolle des "Außenministers der deutschen Mathematik" [11], in die er später hineinwachsen sollte.[12]
Der vorliegende Beitrag
soll nun zeigen, daß bereits in Kleins zunächst noch
vorrangig auf die "reine" mathematische Forschung [13] gerichteten
Reformbestrebungen seit den frühen 1870er Jahren ein enger
Zusammenhang zwischen nationalen und internationalen Kommunikationsstrategien
für die Mathematik erkennbar ist. Die Untersuchung dieses
Zusammenhangs ist historisch unter anderem deshalb interessant
und auch für heutige wissenschaftspolitische Entscheidungen
bedenkenswert, da sie methodologisch die starre, wenn auch begrenzt
tragfähige Dichotomie von "nationaler Zusammenarbeit"
und "internationaler Konkurrenz" der Wissenschaftler
überwindet, so wenig auch gerade im Fall Kleins an seiner
emotionalen und materiellen Bindung an das politische System der
deutschen Monarchie gezweifelt werden soll. [14] Zweitens mag der vorliegende
Beitrag zur einer allgemeineren Diskussion des "Raums der
Wissenschaft" (H.Laitko 1995), unter anderem des Verhältnisses
zwischen wissenschaftlichem Zentrum und wissenschaftlicher Peripherie,
Anregungen geben können. [15] Es sind vor allem die Gründe
dafür zu untersuchen, warum Klein die kleine preußische
Universitätsstadt Göttingen und nicht die deutsche Reichshauptstadt
Berlin und auch nicht die aufstrebenden Vereinigten Staaten zum
Ort seiner Reformbestrebungen machte. Zusammengenommen können
die in diesem Beitrag diskutierten Fragen schließlich auch
einer umfassenderen, hier aber nicht vorgesehenen Erörterung
des Zusammenhangs zwischen "Internationalisierung" und
"Modernisierung" der Naturwissenschaften und Mathematik
um 1900 dienen. [16]
Kleins Kritik an der zu engen Berliner "Schule"
und die Rolle internationaler mathematischer Kommunikation
Kleins
Verhältnis zur Berliner Mathematik entwickelte sich in einem
Prozeß, in dem persönliche Studienerfahrungen in Berlin,
Kleins mathematische Vorlieben, seine frühen und stets erweiterten
internationalen Erfahrungen, sowie Kleins Ehrgeiz und sein Macht-und
Gestaltungswillen zusammenflossen.
Wie ROWE bereits in ähnlicher Weise argumentiert hat, liegt der Kleinschen Reform hinsichtlich der Mathematik wesentlich eine Hinwendung auf neue Kommunikationsprinzipien zugrunde, die partiell durch die Ablösung einer eher autoritären, statischen, lehr- und beweisorientierten Mathematik durch eine eher liberale, dynamische, kooperativ bearbeitete Mathematik charakterisiert werden kann. [17]
Ein wesentlicher Stützpfeiler der alten Kommunikationsweise war natürlich die lokal begrenzte, sich gegen äußere Anregungen weitgehend abschottende nationale oder sogar nur regionale "Schule". Eine solche erkannte Klein anscheinend in der die deutsche Mathematik der 1860er bis 1880er Jahre beherrschenden Berliner Schule. Dort hatten der Funktionentheoretiker Karl Weierstraß (1815-1897) und der Algebraiker Leopold Kronecker (1823-1891) den größten Einfluß. [18] Von den Mathematikern der Berliner Universität wurde das traditionsreiche, 1826 gegründete Journal für die Reine und Angewandte Mathematik ("Crelles Journal") herausgegeben; insbesondere Kronecker übte erheblichen Einfluß auf die Berufungspolitik an anderen deutschen Universitäten aus.
Rückblickend gibt KLEIN - wenn auch mit gewissem Bedauern - in seinen historischen "Vorlesungen" an, daß er als junger, promovierter Mathematiker bei seinem Aufenthalt in Berlin 1869/70 "aus Widerspruchsgeist kein Kolleg [also keine Vorlesung; R.S.] bei Weierstraß gehört" habe. Weierstraß' Stellung beschreibt Klein als die "einer absoluten Autorität, deren Lehren die Zuhörer hinnahmen als unanfechtbare Norm, oft ohne sie im tieferen Sinn recht aufgefaßt zu haben." [19] Obwohl die Weierstraßschen Vorlesungen in den 1870er Jahren noch zahlreiche ausländische Studenten anzogen, [20] war die Abschottung der Berliner gegenüber neueren, auswärts und insbesondere im Ausland erzielten Resultaten nach Kleins Erfahrungen beträchtlich. KLEIN hält es in seinen historischen "Vorlesungen" für eine bemerkenswerte Tatsache, daß die "größeren Werke" über die Funktionentheorie der Weierstraßschen Richtung [21] von solchen Mathematikern verfaßt wurden, die zwar zum Teil Hörer von Weierstraß gewesen waren, aber sich "schon anderweitig mit dem Stoff vertraut gemacht" hatten. [22] Unter diesen selbständigeren Geistern befanden sich dann, wie Klein anmerkt, nicht zufällig in der Mehrzahl Ausländer. Während einige frühere deutsche Schüler von Weierstraß [23] noch zu großer Selbständigkeit fanden, erzielten die späten deutschen Schüler von Weierstraß aus den 1880er Jahren, wie verschiedentlich festgestellt worden ist, [24] nur sehr begrenzt internationale Wirkungen, zumal die Riemannsche Funktionentheorie wegen ihrer größeren Nähe zur Theorie der reellen Funktionen allmählich trendbestimmend wurde. Unter diesen späteren deutschen Schülern von Weierstraß war der Variationstheoretiker Oskar Bolza (1857-1942) wohl auch gerade deshalb einer der erfolgreichsten, da er nicht Funktionentheoretiker war, sich durch Klein neuen Einflüssen öffnete und sich schließlich unter Vermittlung Kleins einen breiteren Wirkungskreis in den USA erschloß. Dagegen bemerkt Klein zur Theorie der linearen Differentialgleichungen n-ter Ordnung des anderen Weierstraß-Schülers und späteren (1884-1902) ordentlichen Professors der Berliner Universität, Lazarus Fuchs (1833-1902):
"Fuchs (hat) ...viele seiner Schüler zu Arbeiten in der selben Richtung veranlaßt, die in der mathematischen Literatur der nächsten Dezennien eine Abteilung für sich bildeten. Da haben wir ein typisches Beispiel einer eng begrenzten 'Schule', wie sie sich durch geregelten Vorlesungsbetrieb, sobald er einseitig wird, herausbilden kann."[25] Klein war später in seiner Berufungspolitik besonders darauf bedacht, das Aufkommen "eng begrenzter Schulen" zu verhindern und sorgte in einem "ständigen Streben nach Breite und Ausgeglichenheit" [26] für die Berücksichtigung ergänzender Forschungsstandpunkte. Er war die treibende Kraft hinter der Berufung David Hilberts (1868-1943) nach Göttingen im Jahre 1895, der durch seine Vielseitigkeit innerhalb der "reinen" Mathematik jene Ausgeglichenheit personifizierte und zugleich eine gute Ergänzung zu dem eher auf die Förderung der Anwendungen der Mathematik hinwirkenden Klein darstellte. [27] In Kleins Korrespondenzen mit seinen ehemaligen amerikanischen Schülern tauchen nicht wenige Bemerkungen auf, die belegen, daß auch sie eher der neuen, zunehmend von Göttingen repräsentierten Mathematik folgten und die Berliner Beschränkungen kritisierten. Beispielsweise schrieb ihm 1893 Henry S.White (1861-1943) folgende Bemerkung, die anscheinend die damals sensationell wirkende Einführung nichtkonstruktiver Existenzbeweise in die Invariantentheorie durch Hilbert reflektierte:
"Having just received the latest issue of the Annalen, I am trying to understand Dr.Hilbert's new paper on invariant systems. His elegance of style lead one to wish that he would publish an elementary treatise on Algebra: it would be really more useful (I presume!) than Kronecker's lectures on the same topics." [28]Kleins Kritik an der "Berliner Schule" beschränkte sich dabei nicht auf die Einseitigkeit der in Berlin vermittelten Mathematik, sondern umfaßte auch das dortige, nach Kleins Auffassung zurückgebliebene, pädagogische System, so daß, wie Klein 1892 an Althoff schrieb, "mangels einer geeigneten Anleitung jährlich in Berlin eine Anzahl mathematischer Existenzen zugrunde geht". [29]
Während Klein in den 1890er Jahren die Berliner im vollen Selbstbewußtsein seiner erlangten Stellung und seines Einflusses im Ministerium kritisierte, hatte er sich 1869/70 bei seinem Berliner Aufenthalt trotz seines "Widerspruchsgeistes" noch durch eine skeptische Bemerkung von Weierstraß von einer bereits ins Auge gefaßten Arbeit über nichteuklidische Geometrie zunächst abbringen lassen. Klein hatte in einem Seminarvortrag die Verwandtschaft von Maßbestimmungen des Engländers A.Cayley (1821) und des Russen N.I.Lobacevskij (1792-1856) in den Grundlagen der Geometrie erwähnt, die Weierstraß in Abrede stellte. [30]
Klein ging Anfang 1870 zusammen mit dem Norweger Sophus Lie (1842-1899), den er in Berlin kennengelernt hatte, nach Paris, was ein für beide prägendes Ereignis in ihrer mathematischen Entwicklung werden sollte. Daß damals ein Studium im Ausland mancherorts als zumindest unnötig empfunden wurde, erwähnt Klein 1923 in seiner Autobiographie:
"Dieser Drang nach möglichster Weite der wissenschaftlichen Auffassung, der auch eine Kenntnis der ausländischen Leistungen wichtig erschien, fand damals in Deutschland nur wenig Verständnis. So bekam ich z.B., als ich mich in Berlin auf Drängen meines Vaters im Kultusministerium um Empfehlungsschreiben bemühte, die offizielle Antwort: 'Wir bedürfen keiner französischen oder englischen Mathematik.'" [31]
Von nun an mußte Klein, wie zur selben Zeit z.B. auch der Schöpfer der Mengenlehre, Georg Cantor (1845-1918), immer wieder die Erfahrung machen, daß es der internationalen Dimension der Mathematik bedurfte, um verkrustete nationale und regionale Hierarchien und Kommunikationsstrukturen aufzubrechen. [32]
Als Klein 1876 die Herausgabe der Mathematischen Annalen übernahm, die 1868 von A.Clebsch und C.Neumann nicht zuletzt mit dem Ziele der Einschränkung der absoluten Dominanz des Berliner Crelle-Journals gegründet worden war, [33] sah sich Klein erneut mit der doppelten nationalen und internationalen Konkurrenz konfrontiert. Über die 1882 gegründete Acta mathematica des schwedischen Weierstraß-Schülers Gösta Mittag-Leffler (1846-1927), dessen "wirksamer internationaler Agitation" man, KLEIN zufolge, "weitgehend die Verbreitung Weierstraßscher Ideen und Art verdankt", sagt Klein rückblickend in seinen "Vorlesungen" weiter:
"Von Anfang an sichert er den Acta, indem er seine Verbindungen zur schwedischen Diplomatie geschickt und ausgiebig nutzt, die allgemeinste Verbreitung und erreicht es tatsächlich, daß die Acta wohlbekannt und überall vorhanden sind, zu einer Zeit, wo das ältere deutsche Unternehmen, die Mathematischen Annalen, gegründet 1868, noch vielfach im Schatten standen." [34]Diese internationale Konkurrenzsituation und die Information von seiten Althoffs, daß das preußische Kultusministerium einigen deutschen Seminarbibliotheken Freiexemplare der Acta übersandt habe, veranlaßten Klein 1886, bereits von Göttingen aus, an Althoff um Gleichberechtigung mit Berlin zu appellieren:
"So lange nur Crelles Journal subventioniert wurde, welches weitaus das älteste ist und sozusagen mit dem preussischen Staate gewachsen ist, habe ich an keinerlei Einsprache zu unseren Gunsten gedacht. Wenn aber jetzt die auswärtige Zeitschrift,... deren dauernde Wichtigkeit aber noch dahin steht, des gleichen Vortheils theilhaftig wird, dann ist der bescheidenste Antrag, den ich stellen kann, dass man in Preussen fortan den mathematischen Annalen den gleichen Vorzug nicht versage, - den mathematischen Annalen, die von Göttingen aus gegründet, von Göttingen aus redigiert werden und die eine Probe von 18 Jahren bestanden haben." [35]
"Was Dich und Deine wissenschaftliche Thätigkeit angeht, so glaube ich, dass eine Uebersiedelung nach Baltimore (die doch hoffentlich nur fünf bis zehn Jahre dauern wird) Dir im grossen Ganzen nützlich und förderlich sein wird. Hierbei sehe ich die Sache folgendermassen. Zwischen Dir und Berlin, wie früher zwischen Clebsch und Berlin besteht ein Rivalisiren. Du deinerseits ist [sic!; R.S.] gerecht gegen die Berliner, die Du verstehst und würdigst. Die Berliner Schule dagegen hat im längsten versucht, Deine Thätigkeit wenn nicht eben ignorieren, so doch möglichst herunterzuziehen. Alle Deine glänzende geometrische Arbeiten kommen bei den meisten dieser Herren wenig in Betracht. Deine analytische Arbeiten haben sie lange nicht verstanden. Erst Dein Verhältniss - einerseits zu Poincaré, andererseits zu Fuchs -, dem Du so starke Wahrheiten gesagt hast, hat diesen Herren Deine grosse Macht klar gemacht, wenn sie Dich lange nicht noch verstehen. Obgleich ich Dich daher als Sieger in diesem Kampfe mit den Berlinern betrachte, so glaube ich, dass es für Dich gut sein wird, für einige Jahre diese aufreibende Geschichten zu verlassen, um so mehr da Deine Gesundheit nicht immer befriedigend ist. Du kannst es mit Ehre machen; denn der Sieg ist Dein. Ich glaube übrigens, dass Dein Ruhm sehr viel durch eine Uebersiedelung nach Baltimore wachsen wird. ... Und was Deutschland betrifft, ... fühle ich mich überzeugt, dass die Berliner Schule Dir genauer folgen wird, wenn Du erst in Baltimore bist." [36]
Klein folgte aus verschiedenen persönlichen und finanziellen Gründen nicht dem Ratschlag Lies, dem er aber - sehr zum offenbar auch fremdenfeindlich motivierten Mißfallen der Berliner Ordinarien [37] - seinen Leipziger Lehrstuhl verschaffte, als er 1885 nach Göttingen ging. Die Gründe für seinen Weggang aus der sächsischen Großstadt Leipzig in das kleine preußische Göttingen schildert Klein in seiner Autobiographie 1923 so:
"Zu der Annahme dieses Rufes bewegte mich vor allem der Wunsch, von der Großstadt loszukommen, die ich nie geliebt hatte, und die Hoffnung, in der kleinen Gartenstadt eine befriedigendere Existenz zu gewinnen. Ferner glaubte ich auch, in Göttingen mehr Zeit als bisher für die Entwicklung meiner allgemeinen geistigen Interessen zu finden... Schließlich kam noch die Überlegung hinzu, daß eine Thätigkeit in Preußen von weit durchgreifenderer Wirkung auf die mathematischen Unterrichtsverhältnisse sein mußte, als das Arbeiten an einer noch so bedeutenden außerpreußischen Universität." [38]
In den folgenden Jahren steigerte sich Kleins wissenschaftsorganisatorische Aktivität immer mehr, was subjektiv zum Teil auch seinen Ursprung in Kleins Ende 1882 verlorenem Wettbewerb mit dem Franzosen Henri Poincaré (1854-1912) in der Uniformisierungstheorie automorpher Funktionen hatte. Doch Klein entwickelte bald (1888) ein selbständiges Programm für die Reform der deutschen Mathematik insbesondere durch stärkere Berücksichtigung der Anwendungsbereiche. [39] In den folgenden Jahren ordnete Klein alle anderen Interessen, insbesondere seinen gelegentlichen wehmütigen Wunsch nach einer Rückkehr in die Forschung, [40] einem "unverrückbar auf bestimmte wissenschaftliche Ziele gerichteten Lebensplan" [41] unter. Dieser Lebensplan war im wesentlichen Maße auf das Ziel gerichtet, die Eigenart des Göttinger Zentrums im Sinne des obigen, vom ihm selbst sogenannten "Göttinger Programms" von 1888 gegenüber Berlin zu entwickeln. [42]
Eine erneute Berufung nach Amerika Ende 1888, diesmal an die neu gegründete Clark University in Worcester, Massachusetts, lehnte Klein, der gerade seine Position in Göttingen festigen wollte, ab. [43] Jedoch versuchte er, sich für Gastvorlesungen in Worcester einen offiziellen Auftrag des preußischen Kultusministeriums zu verschaffen. Er schrieb an Althoff:
"Das allein würde mir Ihnen gegenüber wie auch im Kreise meiner Collegen diejenige Stellung geben, die ich bei dieser Gelegenheit anstrebe." [44]In diesem Zusammenhang fiel dann das Wort von seinen "übrigens unverrückbar auf bestimmte wissenschaftliche Ziele gerichteten Lebensplan", und Klein machte deutlich, daß er seine internationale Wirksamkeit in erster Linie als Mittel ansah, um jenen Lebensplan, also letztlich sein "Göttinger Programm" von 1888 zu, verwirklichen. [45]
Während es Klein 1889 noch nicht gelang, genügend Interesse im Ministerium für seine Amerikamission zu erhalten, gelang ihm dies mit seiner offiziellen Delegierung als "Kommissar" des Ministers zum internationalen mathematischen Kongreß aus Anlaß der Chicagoer Weltausstellung 1893, bei seiner Fahrt zum Princetoner Universitätsjubiläum 1896 und mit seinem Anteil an der beratenden Vorbereitung des deutsch-amerikanischen Professorenaustausches [46] seit 1905.
Die politisch periphere Stellung Göttingens in Preußen und der dortige im Vergleich zu Berlin viel kleinere Wissenschaftsbetrieb ließen dabei offenbar in mehrfacher Hinsicht diese Universität zu einem geeigneten Experimentierfeld für neue, "modernisierende" Wissenschafts-strategien werden. Schon bei der "großen Frage des Frauenstudiums", wie Klein sie nannte, [47] war Göttingen Vorreiter gegenüber Berlin. In Göttingen ließ die preußische Universität im Herbst 1893 erstmals Hospitantinnen zu, wobei nicht zufällig ausländische Studentinnen die Pionierrolle innehatten, bei denen die Behörden leichter eine Ausnahme machen konnten. So war auch die erste Doktorin der Mathematik in Deutschland mit regulärem Examen 1895 Kleins englische Studentin Grace Chisholm Young (1868-1944). [48] Das komplizierende Moment für die Berliner Wissenschaft, das die räumliche Nähe der Regierungsbehörden für informelle und tastende internationale Kontakte mit sich brachte, ließ sich noch bis in die 1920er und 1930er Jahre hinein erkennen. [49]
Die fehlgeschlagenen Berufungen Kleins nach Berlin um 1890
Im
neuen Jahrhundert wurde unter anderem an David Hilberts zweimaliger
Ablehnung einer Berufung nach Berlin und an der mit der ersten
Ablehnung im Zusammenhang stehenden Schaffung eines vierten mathematischen
Ordinariats in Göttingen 1902 die Vormachtstellung der Göttinger
Mathematik gegenüber Berlin zunehmend deutlich. [50] Ende des
19.Jahrhunderts jedoch bedeutete eine Berufung an die Universität
der Reichshauptstadt zweifellos noch die Erfüllung des höchsten
Traums jedes Mathematikers. Bisher ist es nicht ganz geklärt,
inwieweit auch Klein eine Berufung nach Berlin anstrebte, für
die er ja auf Grund seiner Beratungsfunktion gegenüber Althoff
recht gute Chancen hätte haben sollen. Neu aufgefundene Dokumente,
insbesondere der im Anhang publizierte Brief Kleins an Althoff,
scheinen nun die von Klein selbst in seiner Autobiographie im
Nachhinein (und somit mit gebührender Vorsicht zu beurteilende)
vertretene Ansicht zu belegen. Es deutet sich nämlich an,
daß Klein bereits um 1890 sehr sorgfältig die Vorteile
einer Berufung in eine einflußreiche Stelle in Berlin gegenüber
den Nachteilen der verstärkten Belastungen und politischen
Rücksichten und der Einschränkungen von konkreten Veränderungsmöglichkeiten für Mathematik und Naturwissenschaften abwog. Im Kontext
des vorliegenden Artikels ist hieran bemerkenswert, daß
Klein auch bei diesen Erwägungen partiell von seinen internationalen
Erfahrungen ausging. Klein schreibt im Zusammenhang mit der Berufungsfrage
nach Berlin in seiner Autobiographie 1923 über sein Verhältnis
zu Althoff seit etwa 1889:
"In den folgenden Jahren habe ich wiederholt mit ihm in Unterhandlung gestanden, insbesondere im Anschluß an einen Ruf, den ich 1889 von der amerikanischen Universität Worcester (Mass.) erhielt. Althoff riet mir, diese Berufung abzulehnen, wollte mich aber dafür zu einer Übersiedelung nach Berlin bewegen. In mein Gedächtnis hatten sich aber die schlechten gesundheitlichen Erfahrungen, die ich in den Großstädten und bei gleichzeitig nach verschiedenen Seiten gehenden Anforderungen gemacht hatte, zu tief eingegraben. Außerdem hatte sich mir die Meinung gebildet, daß im Interesse der Wissenschaft die Ausbildung verstreuter, in ihrem Charakter verschiedenartiger Mittelpunkte förderlicher sei, als die Konzentration aller Möglichkeiten in einer Metropole. Ich lehnte darum beide Vorschläge unter der Bedingung ab, daß uns in Göttingen freiere Entfaltungsmöglichkeiten gegeben würden. Für diese Auffassung hatte Althoff sofort volles Verständnis. [51] Als sich Weierstraß 1892 emeritieren ließ, konnte die Berufung eines neuen Mathematikers nach Berlin nicht länger verschoben werden." [52]
Klein bemerkt nun tatsächlich auch in seinen im Göttinger Nachlaß vorhandenen handschriftlichen "Persönlichen Notizen", daß es bereits im April 1889 einen von Hermann von Helmholtz (1821-1894) unterstützten Versuch Althoffs gegeben habe, ihn auf einen (offenbar neu zu schaffenden) Lehrstuhl in Berlin zu berufen. Nachdem er, Klein, diesen Vorschlag allerdings bei Verhandlungen abgelehnt hätte, habe Althoff erwidert: "Sie haben recht, Berlin ist Amerika." [53] Der Sinn dieser knappen, zunächst unverständlichen Bemerkung scheint sich nun im Kontext der oben zitierten autobiographischen Erinnerungen Kleins und der um 1889 schwebenden Verhandlungen Kleins mit Althoff über einen offiziellen Auftrag zu Gastvorlesungen in Worcester zu erschließen. Bereits in diesen Verhandlungen war ja eine wirkliche Übersiedelung Kleins nach Amerika nicht mehr erwogen worden, und beider, Althoffs und Kleins, Pläne waren eher auf die Entwicklung der Mathematik in Deutschland gerichtet gewesen. So scheint nun Kleins Weigerung, 1889 nach Berlin zu gehen, mit seiner Furcht vor den überdimensionierten, unlösbaren Aufgaben zusammenzuhängen, die für Klein die Großstadt Berlin und zumindest für Althoff (vielleicht auch für Klein) die Weiten der wissenschaftlich noch unentwickelten Vereinigten Staaten bargen. Althoff hatte anscheinend einen Weggang Kleins in die USA von vornherein als kontraproduktiv angesehen und Klein für die Ablehnung des Rufes mit einer Professur in Berlin belohnen wollen. Klein scheint Althoff dann deutlich gemacht zu haben, daß aus Göttinger Sicht in gewisser Weise - nämlich vor allem was die "wissenschaftsfremden", politischen Einflüsse betrifft - die Dimensionen des Wissenschaftsbetriebes in Berlin mit denen in Amerika vergleichbar waren. Daraufhin lenkte Althoff mit seinem obigen Zitat ein, war allerdings damals (1889), noch nicht ganz vom Göttinger Modell überzeugt, [54] wie noch deutlicher werden wird.
Diese Deutung wird noch wahrscheinlicher, wenn man sich einen längeren Bericht Kleins über den Zustand der Berliner Mathematik ansieht, den Klein am 6.Januar 1892 an Althoff schickte, also 16 Tage vor der Sitzung der Berliner Philosophischen Fakultät, die über die Nachfolge von Kronecker und Weierstraß verhandelte. [55] Dieser Brief wird im Anhang publiziert und soll im folgenden nur [56] in Hinblick auf die Frage einer möglichen Berufung Kleins nach Berlin diskutiert werden. Klein äußerte sich hier zunächst durchaus differenziert über die Rolle des gerade verstorbenen Kronecker im "an der Berliner Universität in den letzten Jahren herrschenden mathematischen System" und erörterte erst gegen Ende seines Berichtes an Althoff die Frage eines möglichen Rufes für ihn nach Berlin mit den folgenden Worten:
"Daß ich in den letzten Tagen verschiedentlich darüber nachgedacht habe, wie ich mich einer etwa an mich ergehenden Berufung nach Berlin gegenüber zu verhalten haben würde, liegt nach den früheren Verhandlungen so auf der Hand, daß es keinen Zweck hat, daraus ein Geheimnis zu machen.... Mein Resultat ist, daß ich zu einer Berliner Wirksamkeit im Sinne von 3) [d.h. im Sinne des Geometers, der von der Anschauung ausgeht; R.S.] in einigen Richtungen wohlbegabt bin, daß mir aber auf der anderen Seite eine wesentliche Eigenschaft abgeht: die Zähigkeit des Großstädters. Wie ich in Berlin auch nur den äußeren Anforderungen gerecht werden soll, die an mich in dem Maße mehr herantreten müssen, als mein Programm umfassender wird, verstehe ich nicht: ganz unerfindlich ist mir aber, wie ich dabei noch meine eigenen inneren Gedankenkreise entwickeln soll. Und letzteres ist für das Glück eines Gelehrtenlebens doch wesentlich entscheidend...Man kann also nicht einfach sagen, daß die bei BIERMANN berichtete [58] Ablehnung Kleins durch die Berliner Fakultät, die besonders auf deren Sitzung vom 22.Januar 1892 zum Ausdruck kam, Kleins Absichten hinsichtlich einer Berufung nach Berlin durchkreuzten, so sehr ihn diese Entscheidung dann doch ärgerte, da er um seinen Einfluß bangte. [59] Klein hat damals anscheinend auch amerikanischen Schülern gegenüber deutlich gemacht, daß er selbst sich eher an Göttingen gebunden fühlte. [60]
Dazu kommt, daß sich die Göttinger mathematische Frequenz [also die Immatrikulation von Mathematikstudenten; R.S.], wie ich neulich schrieb, qualitativ in letzter Zeit sehr erfreulich gestaltet hat und daß sich dieselbe naturgemäß noch weiter heben muß, wenn die Gegenwirkung von Kronecker wegfällt. Denke ich also nur an meine eigene Zufriedenheit, so ist mir kein Zweifel, daß ich an Ort und Stelle bleiben muß. Aber ich könnte verstehen, daß man im Kreise meiner Freunde eine Art Pflicht für mich konstruierte, die zentrale Stellung, wenn sie mir angeboten wird, auf alle Fälle anzunehmen." [57]
Kleins Brief an Althoff vom Januar 1892 zeigt vielmehr, daß für Klein trotz seiner in den folgenden Jahren stark zunehmenden wissenschaftsorganisatorischen Aktivitäten [61] stets das in Göttingen im Kleinen zu verwirklichende Ziel einer vorbildlichen und inhaltlich begründeten Union von Naturwissenschaften, Mathematik und Technikwissenschaften Priorität hatte.
Dies bestimmte auch Kleins Absichten hinsichtlich der Gestaltung der wissenschaftlichen Auslandsbeziehungen und insbesondere seine Rezeption des amerikanischen Beispiels, wie an anderer Stelle genauer ausgeführt werden wird. [62] Jedenfalls waren Kleins internationale Verbindungen, insbesondere seine Beziehungen zur Wissenschaft und Technik der Vereinigten Staaten, für Klein stets ein Mittel, seine Göttinger Pläne zu fördern. Sie dienten schließlich um 1896 auch dazu, Althoff endgültig von der Bedeutung des Göttinger Beispiels zu überzeugen. Klein schreibt dazu in seiner Autobiographie 1923:
"Endgültig frei wurde die Bahn für die erstrebte Entwicklung im Jahre 1896, zu einem Zeitpunkt, in dem infolge der feindlichen Haltung der Ingenieure und der dadurch hervorgerufenen Zurückhaltung der Regierung alle meine Pläne gescheitert erschienen. Ich erhielt nämlich damals im Anschluß an einen zweite amerikanische Vortragsreise zum Jubiläum der Universität Princeton [63] einen Ruf nach Newhaven, wo mir neben Gibbs eine weitreichende Tätigkeit angeboten wurde. Daß ich diesen Vorschlag ablehnte, da ich mich durch die Unternehmungen und Pläne gebunden fühlte, für die ich mich in Göttingen eingesetzt hatte, das endlich riß Althoff aus seiner bisherigen Reserve heraus und veranlaßte ihn zu tätiger Mithilfe." [64]In Hinblick auf Kleins vorsichtige "Modernisierungsstrategie" für die deutsche Wissenschaft scheint mir somit sein folgender Ausspruch kennzeichnend zu sein, der in gewisser Weise auch sein Verhältnis zur Wissenschaft in Berlin charakterisiert:
"Im übrigen wollen wir den letzten Bemerkungen entnehmen, wie die Mathematik in alle Probleme der modernen Kulturentwicklung hineingezogen wird. Wir hier in Göttingen sträuben uns nicht gegen das Moderne, aber wir wollen unseren Schwerpunkt in unserer eigenen Arbeit haben und festhalten." [65]
Selbstverständlich ist dasselbe nach seiner positiven Seite wesentlich von Kronecker getragen worden. [66] In dieser Hinsicht darf ich meine Anerkennung nicht sparen. Dass Kronecker noch in seinen letzten Lebensjahren vermocht hat, unserer Wissenschaft mit jugendlichem Eifer neue Ideen zuzuführen und dadurch den alten Ruf Berlins als eines Mittelpunktes mathematischer Gedankenarbeit in neuer Form aufrecht zu erhalten, ist eine Leistung, die man rückhaltlos bewundern muß. Meine Kritik kann sich nur auf die Einseitigkeit beziehen, mit welcher Kronecker von philosophischen Gesichtspunkten aus ihm ferner stehende Richtungen der Wissenschaft bekämpfte und die Zuhörer geradezu verhinderte, sich über den Umfang und die Bedeutung der heutigen Mathematik ein zutreffendes Bild zu verschaffen. [67] Die Einseitigkeit war wohl weniger in Kroneckers ursprünglicher Begabung, als in seiner Charakterlage begründet. Unbedingte / Herrschaft womöglich über die gesammte deutsche Mathematik wurde je länger je mehr das Ziel, welches er mit allen Mitteln der Klugheit und aller Zähigkeit des Willens anstrebte. Kein Wunder, dass nun. wo er vom Schauplatze abtritt, es an gleichwertigem Nachwuchs fehlt.
In der That kann man Fuchs nicht als solchen betrachten. Ich werde mich hier auch über seine Persönlichkeit in bestimmter Weise äussern, da gelegentliche Differenzen zwischen ihm und mir immer wieder hervortreten und allgemeinere Aufmerksamkeit gefunden haben, als sie verdienen. Fuchs hat mit seiner Erstlingsarbeit, die er 1865 im Anschlusse an Riemann'sche Entwickelungen unter dem Einflusse von Weierstraß schrieb, [68] einen sehr guten Treffer gemacht. Zehn Jahre später sehen wir ihn eigene Gedanken entwickeln, die entschieden tief greifen. Aber die Form seiner Arbeiten war schon damals mangelhaft und je länger je mehr entwickelte sich bei ihm, unter dem Einflusse einer schnell erworbenen Berühmtheit, eine unglückliche Eigenschaft, die beim Mathematiker am wenigsten vorkommen sollte: er machte Fehler und verstand nicht, wenn Andere ihn corrigirten. So ist es wieder mit der neuesten Arbeit, die er vor einem halben Jahre im 108ten Bande des Journals für Mathematik / hat erscheinen lassen. Nekrassoff in Moskau, dessen Entwicklungen Fuchs dort in schroffer Form zurückweist, hat bis auf einen Nebenpunct durchaus Recht. Und zwar handelt es sich dabei um eine ganz elementare Frage der Differentialrechnung. Ich habe den Gegenstand erst vor 14 Tagen genau durchgedacht, da ich als Herausgeber der mathematischen Annalen veranlasst war, dazu Stellung zu nehmen. [69]
So viel das Persönliche. Nun einige Bemerkungen über das seither in Berlin herrschende pädagogische System der Mathematik. Dasselbe hat, wenn ich es richtig verstehe, zu ausschliesslich die Bedürfnisse der Specialisten im Auge gehabt und die allgemeineren Bedürfnisse der anderen Studenten, die doch gerade in Berlin sehr zahlreich vorhanden sind, [70] zu wenig berücksichtigt. Es ist ja im Fache der Mathematik eine ausserordentlich schwierige Frage, wie der Ordinarius des Faches gleichzeitig allgemeinen Anforderungen gerecht werden und doch seine Wissenschaft nach dem neuesten Standpuncte vertreten soll. Man hat in Berlin den Ausweg ergriffen, dass man die Anfangsvorlesungen je länger je mehr hierfür besonders angestellten Extraordinarien überliess. Ich glaube, dass dieser Ausweg unvermeidlich ist, aber ich würde wünschen, dass das / allgemeine System des Unterrichts mehr, als bisher geschehen, von den Ordinarien überwacht und nach bestimmten Gesichtspunkten entwickelt würde. Beispielsweise müsste für Lehramtscandidaten der Mathematik durchaus ein Studienplan vorhanden sein. [71] An kleinen Universitäten, wo mehr Gelegenheit zu persönlicher Beziehung gegeben ist, mag die persönliche Tradition ausreichen, um den Studirenden auf den richtigen Weg zu weisen; in der grossen Stadt versagt dieselbe, und ich bin überzeugt, dass mangels einer geeigneten Anleitung jährlich in Berlin eine Anzahl mathematischer Existenzen zu Grunde geht. Die Institute und Praktika sollten mehr entwickelt sein. Wie ich höre, ist ja jetzt mit der Seminarbibliothek ein eigener Leseraum verbunden, aber ich müsste mich sehr irren, wenn nicht bislang in der Seminarbibliothek alle Bücher fehlten, die geeignet wären, den Studirenden mit den mathematischen Bedürfnissen der Nachbarwissenschaften bekannt zu machen. Modelle für Geometrie sind wohl in spärlicher Zahl vorhanden, aber keine Modelle für Mechanik. Uebungen aber im Construiren und Zeichnen, die jeder Lehramtskandidat einmal durchgemacht haben sollte, sind wohl an der Berliner Universität noch nie veranstaltet / worden. [72]
Freilich verlangt, wie ich hier ausdrücklich zufügen will, die Durchführung eines derartigen Unterrichtssystems auch bei ausreichendem Hülfspersonal von den Ordinarien des Faches eine ungewöhnliche Aufopferung. Das ist nicht wie im chemischen oder physikalischen Praktikum, wo jeder Arbeitsplatz Honorar trägt. Es ist höchstens umgekehrt, dass die ausgedehnte Thätigkeit für die allgemeinen Einrichtungen den Docenten von anderer gewinnbringender Beschäftigung abhält. Aber ich habe bei meinen Versuchen, die ich verschiedentlich in der bezeichneten Richtung unternehme, einen anderen Umstand viel mehr als hemmend empfunden. Dieser ist, dass man die mathematischen Institute, wo sie existieren, den auf collegialer Basis organisirten Seminardirectionen subordinirt und darauf rechnet, dass die Collegen den Leiter der Institute mit Rath und Interesse unterstützen, während es zu leicht dahin kommt, dass sie ihn da, wo er von der Ueberlieferung abweichen will, hemmen.
Doch ich wende mich dazu, für die Neubesetzung der vacanten Stellen Namen in Vorschlag zu bringen.
Darf ich vorausschicken, dass ich mir als die normale Vertretung der Mathematik an einer grossen Universität / eine Dreiheit von Ordinarien denke, die nicht sowohl [73] nach dem Specialgebiet, über welches sie arbeiten, als nach der inneren Verschiedenartigkeit ihres mathematischen Denkens ausgesucht sein sollten. Bei der Mannigfaltigkeit der Individualitäten kann man ja nicht schematisieren, aber im grossen und ganzen sollten folgende Typen vorhanden sein:
In Zukunft wird nun in Berlin Typus 1) wesentlich von Fuchs vertreten sein. Ich könnte sonst als einen bedeutend angelegten aber freilich für viele nicht mathematische Dinge interessirten [77] Mann Georg Cantor (Halle) nennen.
Für Typus 2) mögen Weber und Frobenius in Betracht kommen. [78] Weber (der übrigens zu 3) hinüberneigt) ist besonders vielseitig und beherrscht dabei die Form in wohlthuender Weise. Frobenius ist in seinen Rechnungen ebenso energisch als elegant, ich kenne ihn zu wenig, um über seine sonstigen Eigenschaften, insbesondere seine Lehrfähigkeit, ein klares Urtheil zu haben.
Endlich nenne ich für 3) Schwarz und Lindemann. Schwarz wäre nach der Klarheit seiner Vorträge und seinem Lehreifer zweifellos in erster Linie in Betracht zu ziehen, wenn seine Persönlichkeit nicht so überaus prosaisch und ungelenk wäre. Lindemann scheint mir sehr ernstlich in Betracht zu kommen. Er verbindet Originalität des Denkens mit weit ausgedehnten Interessen.
In vorstehender Liste habe ich verschiedene Namen nicht aufgenommen, die ich doch nachträglich nennen muß und kurz charakterisiren will:
Lie [79] in Leipzig, der 1886 von Christiania [80] als mein Nachfolger dorthin berufen wurde. Lie steht vermöge seiner von geometrischen Ideen ausgehenden Untersuchungen über Differentialgleichungen wissenschaftlich zur Zeit ohne Zweifel in allererster Linie, aber so sehr man von ihm noch viele Leistungen wird erwarten dürfen, so wenig kann er zur Zeit leider bei einer Berufung in Betracht kommen, da er seit 2 Jahren an einem nervösen Leiden / erkrankt ist, das ihn doch sehr hemmt.
Königsberger [81] in Heidelberg ist ganz Energie, vorzügliche Repräsentation. Leider fehlt ihm, so weit ich es beurtheilen kann, die eigentliche mathematische Erfindungsgabe.Christoffel [82] in Strassburg ist mit 62 Jahren nun wohl zu alt. Auch Lipschitz [83] ist ja nicht mehr frisch.
So viel über Berlin. Viel schwerer ist es für mich, betreffs Breslau [84] bestimmte Vorschläge zu machen, da ich die Verhältnisse dort zu wenig kenne, auch nicht weiß, wie hoch man greifen will. Rosanes vertritt den Typus 2). Von jüngeren Professoren würden neben ihn Hurwitz und Schottky vorzüglich passen, beides wissenschaftlich hochbegabte Mathematiker. Unter meinen süddeutschen Collegen mögen hier (wo es sich um eine Ergänzung von Rosanes handelt) Lüroth und Dyck genannt werden. Lüroth ist ein feinsinniger Mann mit sehr ausgedehnten Interessen in reiner Mathematik sowohl wie nach Seiten der verschiedensten Anwendungen hinüber. Dyck ist ein besonders anregender Lehrer, als Organisator hochbegabt, ganz in seiner Amtsthätigkeit aufgehend. Sonderlich productiv sind freilich Beide nicht. /
Endlich schreibe ich noch Einiges über mich selbst. - Dass ich in den letzten Tagen verschiedentlich darüber nachgedacht habe, wie ich mich einer etwa an mich ergehenden Berufung nach Berlin gegenüber zu verhalten haben würde, liegt nach den früheren Verhandlungen [85] so auf der Hand, daß es keinen Zweck hat daraus ein Geheimniß zu machen. Ich aeussere mich hier darüber ausdrücklich, weil ich wünsche, dass meine Grundanschauungen gekannt sind, ehe vielleicht in kürzester Zeit eine Entscheidung zu treffen ist. Mein Resultat ist, daß ich zu einer Berliner Wirksamkeit im Sinne von 3) in einigen Richtungen wohlbegabt bin, daß mir aber auf der anderen Seite eine wesentliche Eigenschaft abgeht: die Zähigkeit des Grossstädters. Wie ich in Berlin auch nur den aeußeren Anforderungen gerecht werden soll, die an mich in dem Maasse mehr herantreten müssen, als mein Programm umfassender wird, verstehe ich nicht: ganz unerfindlich ist mir aber, wie ich dabei noch meine eigenen inneren Gedankenkreise [86] entwickeln soll. Und Letzteres ist für das Glück eines Gelehrtenlebens doch wesentlich entscheidend. Sehr zufrieden, in dieser Hinsicht in Göttingen viele Ansätze wiedergefunden zu haben, welche ich in München und Leipzig verloren hatte, [87] bedauere ich nun, auch unter hiesigen Verhältnissen nicht alle die freie Zeit finden zu können, die zur Ausgestaltung / meiner Pläne erforderlich scheint. Alle die anderen hiesigen Erlebnisse, über die ich gelegentlich klagte, habe ich schliesslich immer durch die Ueberlegung überwunden, dass ich in demselben Maasse Zeit für mich gewinne, als ich durch die Concurrenz mit Anderen am öffentlichen Hervortreten gehindert bin. Dazu kommt, dass sich die Göttinger mathematische Frequenz, [88] wie ich neulich schrieb, qualitativ in letzter Zeit sehr erfreulich gestaltet hat und dass sich dieselbe naturgemäß noch weiter heben muß, wenn die Gegenwirkung von Kronecker wegfällt. Denke ich also nur an meine eigene Zufriedenheit, so ist mir kein Zweifel, daß ich an Ort und Stelle bleiben muß. Aber ich könnte verstehen, daß man im Kreise meiner Freunde eine Art Pflicht für mich construierte, die centrale Stellung, wenn sie mir angeboten wird, auf alle Fälle anzunehmen. [89] Dann bitte ich der Sache eine solche Wendung zu geben, dass ich persönlich mehr dirigire als vorführe. Ich bitte zugleich schon heute, mich nicht für unthätig zu halten, wenn ich nach aussen zu wenig hervortrete. Möge hierüber ein gütiges Geschick walten!
(gez) F.Klein
6 Danksagung und Quellen
* Herrn Professor em. Kurt-Reinhard Biermann, der die Fundamente für eine kritische Geschichtsschreibung über die Berliner Mathematik legte, in Verehrung gewidmet.
1 vor allem aus den Arbeiten von K.-H.Manegold, L. Pyenson, R.Tobies, D.Rowe, S.Hensel und G.Schubring, die zum Teil im Literaturverzeichnis angegeben sind.
2 D.Rowe und R.Tobies planen eine kritische Gesamtausgabe der Korrespondenz zwischen Klein und Althoff.
3 Biermann 1988, 305-312 (im folgenden zitiert als Biermann, Dozenten). In einer Sitzung der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität vom 22.Januar 1892, die über Wiederbesetzungsvorschläge für die Lehrstühle von L.Kronecker und K.Weierstraß beraten sollte, bezeichnete Weierstraß Klein als "Blender", L. Fuchs nannte ihn einen Kompilator und Hermann von Helmholtz berichtete das negative Urteil des verstorbenen Kronecker, der Klein als "Faiseur" bezeichnet habe. Zehn Jahre später heißt es in einem Berufungsvorschlag der Berliner Fakultät für den neuen Göttinger Spitzenmathematiker David Hilbert:"Die Gründe, welche die Facultät vor 10 Jahren bewogen haben, Herrn Klein in Göttingen nicht vorzuschlagen ... bestehen nicht nur unvermindert fort, sondern haben sich inzwischen noch verstärkt, weil er während dieser Zeit seine Tätigkeit weit mehr organisatorischen als wissenschaftlichen Fragen zugewandt hat." (Biermann, Dozenten, 312)
4 Klein hatte diese Vorlesungen als emeritierter Professor während des Ersten Weltkrieges in seiner Wohnung gehalten.
5 Für eine erste biographische Annäherung an Klein vgl. Tobies 1981.
6 Biermann, Dozenten, 155.
7 Bekanntlich realisierte Klein schließlich mit Unterstützung des preußischen Kultusministeriums und privater Wirtschaftskreise um 1900 in Göttingen ein vorbildliches Zentrum der Mathematik, Natur- und Technikwissenschaften unter starker Betonung der Kooperationsbeziehungen zwischen diesen Fächern. Vgl. dazu Tobies 1991b, im folgenden zitiert als Tobies, Schwerpunktbildung.
8 Vgl. dazu Parshall/Rowe 1994, im folgenden zitiert als Parshall/Rowe, Emergence.
9 Vgl. dazu Siegmund-Schultze 1996/97.
10 Das Anwendungsproblem würde bei Beschränkung auf Kleins Verhältnis zur Universitätsmathematik nicht zufriedenstellend diskutiert werden können. Bekanntlich ging es Klein unter anderem auch um die Mathematikausbildung der Ingenieure. So müßten z.B. selbst bei Beschränkung des Themas auf Kleins Beziehungen zu Berlin auch seine Auseinandersetzungen mit dem Berliner Maschinenbauingenieur und Professor an der TH Charlottenburg, Alois Riedler, erörtert werden. Zu letzterem vgl. z.B. Rowe 1989, 201- 204 und Hensel/Ihmig/Otte 1989.
11 So ein Wort von A.Fraenkel, das Biermann, Dozenten, 167, zitiert.
12 In Siegmund-Schultze 1996/97 wird argumentiert, daß Klein erfolgreich versuchte, seine Strategie hinsichtlich internationaler mathematischer Kommunikation zu einer Strategie des preußischen Kultusministeriums zu machen.
13 Im Oktober 1872 entwickelte Klein bekanntlich sein berühmtes "Erlanger Programm" zur Klassifikation der verschiedenen Geometrien mit Hilfe des Gruppenbegriffs.
14 Klein wurde bekanntlich 1907 als Vertreter der Göttinger Universität zum Mitglied des preußischen "Herrenhauses", der zweiten Kammer des Preußischen Landtages, gewählt (Klein 1923, 33, im folgenden zitiert als Klein, Autobiographie). Wie aber immerhin - gerade wegen Kleins großem Einfluß, seiner Weitsicht und wissenschaftlichen Sachlichkeit - auch das historische Urteil über Kleins weltanschaulichen Standort schwankt, geht unter anderem daraus hervor, daß Klein in der Zeit der NS-Diktatur von Mitläufern und Systembefürwortern einmal als Stammvater einer rassistischen "Deutschen Mathematik" in Anspruch genommen, ein anderes Mal als Schöpfer der angeblich "internationalistischen, verjudeten Göttinger Mathematik" eher abgelehnt wurde. Vgl. Rowe 1986, 422/23, im folgenden zitiert als Rowe, "Jewish Mathematics".
15 Laitko, 1995, erörtert in seinem Manuskript unter anderem das Verhältnis von Zentralität und Dezentralität in der Wissenschaft, verweist auf die langjährige Tradition des polyzentrischen deutschen Wissenschaftssystems, die allerdings "eine fast zwangsläufige Folge der politischen Verhältnisse und nicht etwa Frucht einer überlegten Strategie" (15) gewesen sei. Jedoch seien mit dem Eintritt Friedrich Althoffs in das preußische Kultusministerium auch strategische Momente zum Tragen gekommen, was der vorliegende Beitrag ebenfalls belegen wird. Laitko hebt auch hervor (17), daß in der herkömmlichen Wissenschaftsgeschichtsschreibung die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen globaler und nationaler Wissenschaftsgeographie unzureichend ist.
16 Gerade in dieser Hinsicht scheint sich Kleins Persönlichkeit wiederum nicht in einfache historische Schemen pressen zu lassen, wie der Gegensatz zwischen organisatorischem Modernisierungsstreben und kognitivem Konservativismus bei Klein andeutet. Vgl. Mehrtens 1990.
17 Rowe, "Jewish Mathematics", 444, verwendet hier die Kurzformel des Übergangs von der statischen Printkultur zur dynamischen oralen Kommunikation, wodurch vor allem die neuen Vermittlungswege der Mathematik betont werden und womit zweifellos nicht gemeint ist, daß Publikationen im neuen Kommunikations- und Wertesystem der Mathematik eine geringere Rolle spielen.
18 Die Einheitlichkeit dieser "Schule" bestand zunächst institutionell in ihrem Einfluß auf die deutsche Mathematik insgesamt und partiell kognitiv in ihrem strengen "arithmetisierenden" Begründungsansatz der Mathematik, ohne daß damit die späteren Kontroversen zwischen Weierstraß und Kronecker insbesondere über den Begriff der reellen Zahl ignoriert werden sollen. Interessant ist, daß Klein die Berechtigung dieses mathematischen Standpunktes durchaus anerkannte und sogar zur Ergänzung der Göttinger Mathematik die Berufung eines Vertreters dieser Richtung anstrebte, wie bei Hilberts Berufung 1895 deutlich wurde. S.u.
19 Klein 1926, 284, im folgenden zitiert als Klein, Vorlesungen.
20 Allerdings waren darunter nur wenige amerikanische Studenten, wie z.B. E.H.Moore. Die meisten Amerikaner gingen erst in den 1880er Jahren in größeren Zahlen nach Deutschland, dann aber vor allem zu Klein nach Leipzig und Göttingen. Vgl. Parshall/Rowe, Emergence, 191ff.
21 Diese im deutlichen Unterschied zur geometrisch und anschaulich orientierten Funktionentheorie der Riemannschen Richtung, die Klein nahe lag und die später z.B. Kleins amerikanischer Schüler W.F.Osgood in seinem deutsch geschriebenen Standardwerk "Vorlesungen zur Funktionentheorie" (1906) vertrat.
22 Klein, Vorlesungen, 291.
23 An bedeutenden frühen Weierstraß-Schülern wären vor allem Georg Cantor (1845-1918), Hermann Amandus Schwarz (1843-1921) und Friedrich Schottky (1851-1935) zu nennen, von denen besonders die beiden ersten bald weit über den von ihrem Lehrer vermittelten Ideenkreis hinaustraten. Der ebenfalls bedeutende Adolf Hurwitz (1859-1919) war im gleichen Maße auch Kleins Schüler, bei dem er 1881 in Leipzig promovierte.
24 unter anderem von Klein selbst, der in seinem Brief vom 6.Januar 1992 an Althoff schreibt, daß es nach dem Abtritt von Kronecker und Weierstraß in Berlin "an gleichwertigem Nachwuchs fehlt". S.u.
25 Klein, Vorlesungen, 270. Bemerkenswert ist hier wieder, daß Klein in seinem im Anhang folgenden Brief an Althoff 1892 betont, daß Fuchs' bedeutenden frühen Arbeiten wesentlich an Riemann anknüpften. Man vgl. auch die Kontroverse zwischen Fuchs und P.A.Nekrasov in Veröffentlichungen im Crelle-Journal und in den Mathematischen Annalen, die Klein in seinem Brief an Althoff mit Parteinahme für Nekrasov kommentiert. S.u.
26 Rowe, "Jewish Mathematics", 437. Vgl. auch die entsprechende Forderung Kleins nach einer "Dreiheit von Ordinarien" in seinem Brief an Althoff. S.u.
27 Interessant ist, daß Klein 1892 noch David Hilbert in einem gewissen Sinne der "Kronecker-Weierstraßschen Richtung" zuzählte, d.h. derjenigen Mathematik, die besonderes Gewicht auf die arithmetisch-strukturelle und logische Seite der Mathematik legte. In einem Brief an Althoff schrieb Klein am 21.März 1892:
"Soll die Göttinger mathematische Schule auf gesunder Basis weiter wachsen, so brauche ich eine Ergänzung in der Richtung Kronecker-Weierstraß (die ich immer hochgehalten habe, so wenig ich ihre alleinige Prävalenz gutheißen konnte). In dieser Hinsicht (sind)... erst in neuerer Zeit ... Hilbert und Minkowski als jüngerer Nachwuchs hinzugekommen." (NL Althoff, Abt. I, Nr.84, Bl.27.)
Allerdings ging Hilberts vor allem für die Grundlagen der Geometrie entwickelte axiomatische Methode bald weit über die bei Kronecker und Weierstraß vorhandenen Ansätze für eine "Strukturmathematik" hinaus. Vgl. dazu den im folgenden zitierten Brief des Amerikaners White.28 NL Klein, 12, Nr.305. H.S.White an Klein, 14.6.1893. Mit seinem früheren Schüler M.Bôcher korrespondierte Klein unter anderem 1901 über dessen Kontroverse mit dem Berliner L.Fuchs. Vgl. NL Klein 8, Nr.156, Bôcher an Klein, 5.1.1901.
29 Vgl. unten Anhang.
30 Klein, Vorlesungen, 152:
"Ich erhielt jedoch als Antwort, das seien doch wohl ganz getrennte Gedankenkreise; für die Grundlagen der Geometrie komme wohl vor allen Dingen die Eigenschaft der Geraden in Betracht, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten zu sein."Von ziemlich starren ontologischen Beschränkungen in den Auffassungen mancher Berliner Mathematiker über die "Natur" mathematischer Gegenstände berichtet auch der Amerikaner Irving Fisher, der folgendes über eine Begegnung mit Weierstraß' Schüler Hermann Amandus Schwarz in der "postklassischen Periode" der 1890er Jahre berichtet (Fisher 1930, 230):
"I remember the comment of Professor Schwarz in Berlin, when I undertook to defend Gibbs' vector analysis:
'Es ist zu willkürlich.' The Germans felt in honor bound to restrict pure mathematics to mere elaboration of the proposition that one and one make two....When I reported these criticisms to Gibbs, his comment was that all depends on what your object is...If the object is to interpret physical phenomena...then, he said, the criticisms of the Germans are beside the point."31 Klein, 1923, 16, im folgenden zitiert als Klein, Autobiographie.
32 Cantors revolutionäre Theorie wurde in Deutschland nur zögernd rezipiert. Ihre französischsprachige Publikation in den schwedischen Acta Mathematica trug stark zu ihrer internationalen Verbreitung bei. Cantors Beitrag zur Gründung der Deutschen Mathematikervereinigung im Jahre 1890 und bei der Vorbereitung des ersten internationalen Mathematikerkongresses in Zürich 1897 müssen auch unter dem Aspekt der Umschiffung nationaler Hindernisse, insbesondere der rigorosen Ablehnung der Mengenlehre durch Kronecker, gesehen werden. Purkert/Ilgauds 1987, 221-223. Man beachte aber, daß Cantor bei der Gründung der DMV im Detail andere, eher auf die "reine Mathematik" gerichtete Strategien verfocht als Klein, dessen Vorstellung, die DMV organisatorisch näher an die Naturwissenschaften anzuschließen, sich schließlich durchsetzte. Vgl. dazu Tobies 1991a, S.40.
33 Zur Gründung der Annalen vgl. Tobies/Rowe 1990, 28-37. Rückblickend, in einer neuen (bald vorübergehenden) Aufschwungsphase der Berliner Mathematik, bemerkte der Berliner Funktionentheoretiker Ludwig Bieberbach 1930 dazu:
"So entsprang die Gründung der mathematischen Annalen, deren erster Band 1870 vorliegt, einem gewissen 'Los von Berlin', ein Zeichen, daß man in jenen Jahren wie in politischen so auch in organisatorischen Fragen der Wissenschaft eine zu straffe Zentralisation als Last empfand."(Bieberbach 1930, XXX) Der Konkurrenz zwischen Crelle's Journal und den Mathematischen Annalen lagen zunächst auch inhaltliche Differenzen zugrunde, insbesondere zwischen synthetischen (die besonders von dem Berliner J.Steiner vertreten wurden) und analytischen Methoden, die Kleins Lehrer J.Plücker sowie O.Hesse repräsentierten. Rowe 1989, 190, bemerkt, daß diese inhaltlichen Differenzen zwar bereits Anfang der 1870er Jahre im Schwinden begriffen waren, daß es aber bis zur Jahrhundertwende eine ziemlich deutliche Trennung der Autorenschaften in beiden Zeitschriften gab, da insbesondere das Crelle-Journal nur wenig algebraische Geometrie oder Invariantentheorie veröffentlichte (Rowe 1989, 192/93).34 Klein, Vorlesungen, 292/93.
35 NL F.Althoff, Abt. B., Nr.92. Klein an Althoff 28.5.1886, Bl.45Rs/46. Hervorhebung von Klein. Der ausdrückliche Hinweis auf (das preußische) Göttingen erklärt sich damit, daß die Annalen vom Teubner- Verlag in Leipzig, also im Teilstaat Sachsen, publiziert wurden.
36 NL Klein 10: 690. Lie an Klein, o.D. vermutlich Dezember 1883. Im wesentlichen zitiert auch bei Rowe 1988, 38/39, wo das etwas eigentümliche Deutsch des Norwegers Lie korrigiert ist. Der Brief drückt auch viel von Lies eigener Kränkung durch die Berliner aus.
37 Biermann, Dozenten, 166/170.
38 Klein, Autobiographie, 22. Bekanntlich war Preußen der weitaus größte und mächtigste Teilstaat im deutschen Reich, und der preußische Kultusminister besaß mittels der Kultusministerkonferenzen eine Art Richtlinienkompetenz.
39 Vgl. Manegold 1970, 103ff. und Tobies, Schwerpunktbildung, 93.
40 Diesen Wunsch hatte Klein offenbar, dem obigen Ausschnitt aus seiner Autobiographie folgend, schon bei seiner Berufung nach Göttingen gehabt, und er taucht auch in dem unten folgenden Brief an Althoff vom 6.Januar 1892 wieder auf. Vgl. unten Anhang.
41 So Klein in einem Brief an den Amerikaner G.St. Hall vom 10.3.1889, NL Klein 1.B.4.,zitiert in Siegmund- Schultze 1996/97.
42 Daß Kleins Projekt weit über die Förderung der Mathematik hinausging und daß er sich dabei in Konkurrenz zu Berlin sah, belegt zum Beispiel folgender Ausschnitt aus einem Brief Kleins an Althoff vom 10.Januar 1895, wo Klein auf die von Helmholtz begründete Berliner Physikalisch-Technische Reichsanstalt anspielt:
"Der präcise Unterschied zwischen unserem Procedere und der Reichsanstalt ist doch der, daß wir eine Unterrichtsanstalt sein wollen, was bei letzterer prinzipiell ausgeschlossen ist. Andererseits haben wir durchaus das Interesse, unsere Pläne nicht in Berlin, sondern in Göttingen ausgeführt zu sehen; ist doch unser eigentlicher Ausgangspunkt, daß wir für unsere Universität gegenüber der mächtigen Concurrenz von Berlin etwas Eigenes haben wollen." (NL Althoff, Abt. B, Nr. 92, Bl.126/127, Bl. 126)43 Parshall/Rowe, Emergence, 271/72.
44 Tobies 1990, 49.
45 Vgl. Siegmund-Schultze 1996/97.
46 Zum Professorenaustausch allgemein vgl. B.vom Brocke 1991 in Brocke 1991 (Hrg.), zu Kleins allerdings relativ geringem Anteil daran Siegmund-Schultze 1996/97.
47 Tobies, 1991/92, 155.
48 Weierstraß' Schülerin, die Russin Sofia Kovalevskaja, hatte noch bei ihm in seiner Berliner Wohnung Privatunterricht nehmen müssen und ohne reguläres Examen ("in absentia"), bezeichnenderweise wieder im abgelegenen Göttingen, 1874 promoviert. Klein schreibt in seiner Autobiographie, daß Althoff die Mathematik "für diesen ersten Versuch ausersehen hatte", weil hier "Täuschung darüber, ob wirkliches Verständnis vorliegt, oder nicht, vielleicht am wenigsten möglich" sei (Klein, Autobiographie, 27).
49 Die amerikanische Rockefeller-Stiftung wurde in ihren weniger offiziellen Unternehmungen, insbesondere bei der Einzelförderung von Stipendiaten in Berlin, zuweilen entmutigt. Vgl. Kohler 1991, 159. Zur Zeit der NS- Diktatur unterlagen internationale Kontakte gerade in Berlin besonders argwöhnischer Beobachtung, was sich in der Mathematik zum Beispiel im Referatewesen auswirkte. Vgl. Siegmund-Schultze 1993.
50 Rowe, "Jewish Mathematics", 436.
51 Althoffs Verständnis war in Wirklichkeit nicht so unmittelbar vorhanden, wie noch deutlich werden wird.
52 Klein, Autobiographie, 26.
53 NL Felix Klein, 22.L.3. Persönliche Notizen 1886-1913, S.3.
54 Vgl. hierzu Tobies, Schwerpunktbildung, 95/96, wo Althoffs Zögern, auf Kleins Forderungen einzugehen, beschrieben wird, selbst dann noch, als Klein 1892 einen Ruf nach München erhielt. Vgl. auch eine weiteres, unten folgendes Zitat aus Kleins Autobiographie.
55 Vgl. Fußnote 3.
56 Vgl. aber die Fußnoten zu dem in 5. reproduzierten Brief.
57 NL F.Althoff, AI, Nr.84, Bl.5-9Rs, Klein an Althoff 6.Januar 1892, Bl.9/9Rs. Hervorhebung von Klein. Die Orthographie ist in diesem Ausschnitt der heute üblichen angepaßt. Vgl. den Gesamtabdruck des Briefes im Anhang.
58 Biermann, Vorlesungen, 151. Vgl. auch Fußnote 3.
59 NL Althoff, Klein an Althoff, AI, Nr.84, 10.4.92, Bl. 32-34. Klein schreibt dort in der Absicht, die Beförderung seines Göttinger Kollegen A.Schönflies zu beschleunigen:
"Ich werde ... jungen Mathematikern nur rathen dürfen, sich nicht an mich anzuschliessen, sofern sie auf spätere Beförderung in Preußen rechnen wollen. Meine Nichtberufung nach Berlin, die ich persönlich als eine glückliche Wendung begrüße, hat ohnehin / in weiten Kreisen in dieser Hinsicht deprimierend gewirkt." (Bl.33 Rs/34)60 So schreibt Kleins ehemaliger Schüler H.S.White, bei dem Klein 1893 während des Chicagoer Kongresses gewohnt hatte, am 26.Februar 1923, zwei Jahre vor Kleins Tod, an ihn. Vgl. NL Klein 12, Nr. 313, C2/3. White wandte sich gegen eine damals in amerikanischen Mathematikerkreisen kursierende Darstellung des Amerikaners R.C.Archibald, der Kleins Nichtberufung allein auf die negative Entscheidung der Berliner Fakultät zurückführte. White erinnerte sich an ein diesbezügliches Gespräch mit Klein im Jahre 1893 in folgender Weise:
"Your reply was, after proper deliberation, that since the acceptance of the position would require you to sever your connection with the Mathematische Annalen and assume either principal or partial editorial responsibility for the Journal für r.u.a.Mathematik, you would not accept the Berlin professorship. For my part, understanding the matter so, and appreciating somewhat your loyalty to old friends and your respect for the unity of your career, I feel convinced that your decision was correct; and that acceptance would have been a lowering of your personal dignity."61 die auch die in dem Brief an Althoff noch erhoffte Rückkehr zur eigenen Forschung bald illusorisch machen sollten
62 Siegmund-Schultze 1996/97.
63 Die "Princeton University" erhielt 1896, anläßlich der 150-Jahrfeier der Gründung ihrer Vorgängereinrichtung, "The College of New Jersey", ihren neuen Namen.
64 Klein, Autobiographie, 28/29.
65 Klein, Vorlesungen, 295.
66 Die auf Kronecker bezügliche Passage gibt Rowe, "Jewish Mathematics", 442, in englischer Übersetzung.
67 Hier ist natürlich in erster Linie Kroneckers Kampagne gegen Cantors Mengenlehre gemeint.
68 Es handelt sich hierbei um "Zur Theorie der linearen Differentialgleichungen mit veränderlichen Coefficienten", Crelle-Journal 66 (1866), 121-160. Diese Arbeit bezeichnet Gray 1986, 59-62, in seiner Analyse als "a blend of Riemannian techniques and those of the Berlin school".
69 Klein nimmt hier Bezug auf die Arbeit des Moskauer Mathematikers P.A.Nekrasov (1853-?) "Über den Fuchsschen Grenzkreis", Mathematische Annalen 38 (1891), 82-90, in der dieser Gegenbeispiele zu den Existenzsätzen angab, die in L.Fuchs' Arbeit "Über die Darstellung der Functionen complexer Variabeln, insbesondere der Integrale linearer Differentialgleichungen", Crelle-Journal 75 (1873), 177-223, allgemein formuliert waren. Fuchs bemühte sich in einer erneuten Arbeit im Crelle-Journal 108 (1891), 181-192, diese Gegenbeispiele als "Ausnahmefälle" zu deklarieren und fügte hinzu, daß Nekrasov "den von mir gegebenen Beweis nicht verstanden hat" (182). Eine publizierte Stellungnahme Kleins scheint es zu diesem Thema nicht gegeben zu haben; vielleicht spielt er Althoff gegenüber auf einen persönlichen Brief an Fuchs an, den er in diesem Zusammenhang geschrieben haben mag.
70 Hiermit spielt Klein anscheinend nicht nur auf die relativ größere Anzahl auszubildender Mathematiklehrer für die zahlreichen höheren Berliner Schulen (Gymnasien und Realschulen), sondern auch auf gewisse Berufsmöglichkeiten in anderen Bereichen, z.B. im Versicherungswesen, an.
71 Lorey zeigt in seinem Buch über das Studium der Mathematik an deutschen Universitäten, daß sich feste Studienpläne nur langsam, zunächst in Form von sog. "Ratschlägen" entwickelten. Die Zunahme der Studentenzahlen habe aber allmählich die frühere "völlige Vernachlässigung des praktischen Studienzwecks" (Lorey, Studium, 293) unmöglich gemacht. Noch im Jahr 1916 betont aber Lorey, daß "bindende Vorschriften ... dem Geist der akademischen Freiheit widersprechen" würden (Lorey, Studium, 292). Man beachte, daß das von Kummer und Weierstraß 1860 begründete "Mathematische Seminar" an der Berliner Universität noch die wissenschaftliche Leistung der Studenten in den Vordergrund stellte (Biermann, Dozenten, 97f.)
72 Felix Klein gehörte in allen von ihm monierten Punkten zu den Vorreitern einer modernen, praxisorientierten Ausbildung von Mathematikern in Deutschland. Wesentlich sein Verdienst ist die 1898 erfolgte Einführung einer (zunächst fakultativen) Nebenfachprüfung für Mathematiklehrer (der damals noch dominante Berufsabschluß) in "angewandter Mathematik" in Preußen. In Berlin anerkannten die Mathematiker erst nach Ende des Ersten Weltkrieges die Unentbehrlichkeit von Vorlesungen in praktischer Mathematik, insbesondere darstellender Geometrie, die G.Frobenius noch 1902 als "ihrer Natur nach Sache der technischen Hochschulen" (Biermann, Dozenten, 187) bezeichnet hatte.
73 bedeutet hier: nicht in erster Linie
74 Ernst Eduard Kummer (1810-1893) war einer der bedeutendsten Zahlentheoretiker des 19.Jahrhunderts und gehörte neben Weierstraß und Kronecker in den 1860er bis 1880er Jahren dem sprichwörtlichen "Dreigestirn" der Berliner Mathematiker an.
75 Gustav Robert Kirchhoff (1824-1887) wirkte seit 1874 in Berlin und legte als Mitbegründer der Spektraltheorie Grundlagen für die Herausbildung der Quantenphysik. Er war einer der mathematisch am besten ausgebildeten Physiker seiner Zeit.
76 Der äußerst vielseitige Hermann von Helmholtz (1821-1894) wirkte seit 1871 in Berlin und arbeitete unter anderem über die Grundlagen der Geometrie aus der Sicht des Physikers.
77 Mit diesen "nichtmathematischen Dingen" meint Klein zweifellos nicht die Cantorsche Mengenlehre selbst, die freilich damals von manchen Mathematikern als "zu philosophisch" verpönt wurde. Eher wird hier Cantors Interesse an der sogenannten "Bacon-Shakespeare-Theorie" gemeint gewesen sein, wonach Francis Bacon der eigentliche Autor der Shakespeare zugeschriebenen Stücke sein müsse. Vgl. Ilgauds 1982.
78 Der vielseitige, besonders zu algebraischen Problemen arbeitende Heinrich Weber (1842-1913) wirkte damals in Marburg, ging aber 1892 als Nachfolger von H.A.Schwarz nach Göttingen, der seinerseits Weierstraß' Position in Berlin übernahm. Der bedeutende Gruppentheoretiker Georg Frobenius (1849-1917), der aus Zürich kam, wurde Nachfolger von Kronecker. Daß Althoff Weber nach Göttingen berief, der von Klein nicht ins Auge gefaßt worden war, kennzeichnet das noch nicht perfekte Einverständnis zwischen Klein un Althoff im Jahre 1892. Vgl. Rowe, "Jewish Mathematics", 434.
79 Der Norweger Sophus Lie (1842-1899) ist der Begründer der Theorie der kontinuierlichen Gruppen in ihrer Beziehung zur Differentialgleichungstheorie und ist (vielleicht neben Cantor) unter allen von Klein in seinem Brief genannten Mathematikern der in der Gegenwart am meisten nachwirkende. Er wurde aber von den Berliner Mathematikern völlig unterschätzt, wie zahlreiche Zitate bei Biermann 1988 und Rowe 1988 zeigen, und auch nicht berufen. Daß Klein die um 1892 stärker werdenden brieflichen Angriffe (Rowe 1988) des gekränkten und eifersüchtigen Lie auch gegen ihn, vor allem in seiner Eigenschaft als Herausgeber der Mathematischen Annalen (in der er angeblich Artikel zuließ, die Lies Bedeutung nicht genügend würdigten) allein auf Lies nervliche Labilität schob, zeigt einerseits seine auch von Rowe konstatierte "Großmut", andererseits wohl auch seine Vorsicht, Lie nicht zu einflußreich werden zu lassen.
80 heute Oslo
81 Der Weierstraß-Schüler und Funktionentheoretiker Leo Königsberger (1837-1921) wirkte damals und bis zu seiner Emeritierung in Heidelberg. Seine größte Wirkung erzielte er als Biograph von H.von Helmholtz (3 Bände, 1902/3) und mit seiner Autobiographie "Mein Leben" von 1919.
82 Elwin Bruno Christoffel (1829-1900) wirkte damals in Straßburg. Er war als Differentialgeometer und Invariantentheoretiker ein bedeutender Vorläufer der Tensorrechnung und moderner Differentialformenkalküle ("Riemann-Christoffel-Symbole").
83 Rudolf Lipschitz (1832-1903) war einer der einflußreichsten deutschen Mathematiker des vorigen Jahrhunderts, wenn er auch heute fast nur durch die "Lipschitz-Bedingung" in der Differentialgleichungstheorie bekannt ist. Lipschitz wirkte damals und bis zu seinem Tode in Bonn.
84 An der Universität Breslau war nach dem Tode des Geometers und Steiner-Schülers Heinrich Schroeter (1829- 1892) ebenfalls ein Lehrstuhl vakant. Er wurde schließlich mit dessen Schüler Rudolf Sturm (1841-1919) besetzt, der von Klein nicht genannt worden war. Sturm vertrat wie sein Lehrer Schroeter die synthetische Geometrie und war zuvor in Münster gewesen. Sturm wurde Ordinarius neben dem algebraischen Geometer Jakob Rosanes (1842-1922). Adolf Hurwitz (1859-1919), damals Königsberg, war einer der wenigen gemeinsamen Schüler von Klein und Weierstraß, Friedrich Schottky (1851-1935) war seit 1892 in Marburg und Weierstraß-Schüler. Schottky wurde 1902 als Nachfolger von Fuchs nach Berlin berufen. Beide waren Funktionentheoretiker und waren als Theoretiker bedeutender als die zuletzt genannten Lüroth und Dyck, wie auch Klein anmerkt. Jakob Lüroth (1844-1910), der 1892 in Freiburg wirkte, und Walter von Dyck (1856- 1934), seit 1884 an der TH München, waren aber, ebenso wie Klein, besonders stark an den Anwendungen der Mathematik interessiert.
85 Klein spielt hier anscheinend auf frühere Angebote Althoffs von 1889 an, sich nach Berlin berufen zu lassen.
86 Klein meint hiermit offensichtlich die eigene mathematische Forschung, wie auch aus seiner Autobiographie von 1923 hervorgeht.
87 Klein war 1875 an die Technische Hochschule München, 1880 an die Universität Leipzig und 1885 an die Universität Göttingen berufen worden.
88 Gemeint sind hier offenbar nicht allein die auch damals oft als Maßstab bewerteten Immatrikulationszahlen für Mathematik, wie Kleins Hinweis auf die "qualitative" Seite zeigt.
89 Vgl. hierzu Kleins in Fußnote 59 zitierten späteren Brief an Althoff vom 10.April 1892, in dem er sich über die "deprimierende Wirkung" seiner Nichtberufung auf Diejenigen beklagt, die auf seine Unterstützung gehofft hatten.
Als HTML-Text:B. Richter, 24.02.97