Mathematik und Mathematica

Dieser Abschnitt geht auf einen Vortrag mit dem Titel

Euklidische Form von konformen Invarianten,

Beweise mit Mathematica

zurück, den ich am 3. Februar 2004 auf dem V. Mathematica-Tag an der TFH Berlin gehalten habe. Die hier vorliegende Fassung ist eine Neubearbeitung.

Das von Stephen Wolfram und seinen Mitarbeitern entwickelte computer-algebraische System Mathematica macht es möglich, neuartige Lehrmaterialien in Gestalt von Notebooks zu entwickeln, die den Studierenden online in Universitätsnetzen und darüber hinaus allen Interessenten, die Zugang zu Mathematica haben, im Internet zur Verfügung gestellt werden können. Die mannigfachen in Mathematica implementierten Funktionen, Algorithmen und graphischen Methoden gestatten es dem Nutzer, interaktiv den dargebotenen Stoff zu bearbeiten, die vorhandenen Methoden kritisch zu untersuchen und eigene Ideen zu entwickeln, so dass aus dem angebotenen Notebook schließlich ein eigenes Werk entsteht, das dem subjektiven Lernprozess und den eigenen Bedürfnissen angepasst ist. Die vielen Import- und Exportmöglichkeiten und die Verwendung von Hypertexteigenschaften erhöhen den Gebrauchswert eines sorgfältig aufgebauten Notebooks gegenüber denen eines klassischen Lehrbuchs beträchtlich. In naher Zukunft werden sich diese Vorzüge noch weiter verstärken, wenn selbst entwickelte Notebooks und Texte mehr und mehr mit den im Internet vorhandenen Arbeiten anderer Autoren und den einschlägigen Datenbanken vernetzt werden. 

Über Themen der Analysis könnten derartige Notebooks recht einfach geschrieben werden, weil Mathematica von sich aus sehr reich an Objekten und Algorithmen dieses Gebiets ist. Jeder Student, der sich in Mathematica eingearbeitet hat, wird es als nicht sehr schwer und als sehr nützlich empfinden, seine Kenntnisse in Analysis mit Mathematica zu vertiefen. Er kann sich unschwer zum Beispiel ein Mathematica Notebook als eine Art Tagebuch begleitend zu einer Vorlesung einrichten. Mathematica ist jedoch zumindest zur Zeit ( in der Version 6.0) noch nicht in der Lage, Lehrmaterialien zu abstrakteren begrifflichen Grundlagen der Mathematik adäquat zu gestalten. Begriffe wie „Menge“, „Gruppe“, „unendlich“ u.s.w. sind in Mathematica nicht implementiert. Ich gestehe, dass meine Versuche, eine „naive Mengenlehre“, wie sie in allen mathematischen Disziplinen tagtäglich benutzt wird, in Mathematica einzuführen, gescheitert sind. Daher habe ich die hierzu gehörenden Notebooks aus der Website entfernt. Allerdings habe ich bei der Beschäftigung mit dieser Problematik einige nützliche Erkenntnisse gewonnen, die den Gebrauch der naiven Mengenlehre in der Mathematik einerseits und meine Stellung zu Mathematica andererseits betreffen. Die Endlichkeit auch des größten Computers, ja sogar des gesamten Internets, ist ein Fakt, der den Ausflügen der „künstlichen“ Intelligenz recht enge Grenzen setzt, die von der „natürlichen“ Intelligenz mit Leichtigkeit, manchmal auch mit Leichtfertigkeit, überwunden werden. Insgesamt bestätigt dieser Versuch die zu erwartende Erkenntnis, dass selbst computer-algebraische Systeme mit einer großen Komplexität und reichen Sprache noch weit davon entfernt sind, begriffliches Denken befriedigend  nachvollziehen zu können.

Ganz anders ist die Situation jedoch, wenn man konkrete Strukturen zu untersuchen hat, wie es etwa in der Vektoralgebra der Fall ist. Am Beispiel der in dem Paket  Spheres entwickelten elementaren Möbius-Geometrie erkennt man, dass derartige Strukturen sehr gut in Mathematica zu modellieren sind,  und dass man dann in diesen Modellen sehr schnelle Algorithmen implementieren kann, die zusammen mit den ausgezeichneten, Mathematica immanenten Vereinfachungsalgorithmen sogar zu neuen Methoden und Resultaten führen können. So ist zum Beispiel in den Notebooks euklid.nb, pseuklid.nb  neben einem sehr schnellen Erhard Schmidtschen Orthogonalisierungsverfahren, das auch in Pre-Hilberträumen anwendbar ist, ein Orthogonalisierungsverfahren für Vektorfolgen in endlich-dimensionalen pseudo-euklidischen Vektorräumen beschrieben, das vielfache Anwendungen gestattet. In dem den linearen Lie-Algebren gewidmeten Notebook liealg.nb wurde es weiter ausgebaut und zur Bestimmung des Indexes der Killing-Form einer linearen Lie-Algebra  angewandt. Die Killing-Form der pseudo-orthogonalen Lie-Algebra wird in den der Möbius-Geometrie gewidmeten Notebooks der Serie Spheres  zur Bestimmung der einparametrischen Untergruppen der Möbius-Gruppe benutzt, deren Trajektorien die Geodätischen in den pseudo-Riemannschen symmetrischen Räumen der 0-Sphären (= Punktepaare), der Kreise und der Sphären in der 3-Sphäre sind; dabei wird die in Mathematica  vorhandene Funktion MatrixExponential eingesetzt. Mit Hilfe der in "Spheres"  konstruierten Module  (stereographische Projektionen, Plot-Befehle) kann man sich dann diese Geodätischen wie auch andere, in der dreidimensionalen Möbius-Geometrie interessanten Konfigurationen im dreidimensionalen euklidischen Raum veranschaulichen. Hierzu erweist sich das von Jens-Peer Kuska  entwickelte Animationsprogramm MathGL3d als Ergänzung der älteren Versionen von Mathematica als sehr nützlich. Bis zur Version 5.0 von Mathematica ist es frei zugänglich und kann über den genannten Link für die meisten Betriebssysteme herunter geladen werden. Für die Versionen 6.0 und höher kann man es recht teuer bei Wolfram erwerben. Allerdings sind einige Operationen von MathGL3d jetzt direkt in der Version 6.0 und hoffentlich auch in den kommenden Versionen von Mathematica implementiert, so dass Animationen auch ohne MathGL3d in Mathematica möglich sind.

Der im eingangs zitierten Titel des Vortrages genannte Gegenstand führt jedoch auf einen anderen Aspekt der Anwendung von Mathematica. In meiner Arbeit [33] habe ich ein vollständiges System von Möbius-Invarianten für Paare von Teilsphären der n-Sphäre  bestimmt, das aus den Eigenwerten eines selbstadjungierten Operators besteht, der auf einem euklidischen Unterraum des (n+2)-dimensionalen pseudo-euklidischen Vektorraums wirkt; dieses Konstrukt ist dem Teilsphärenpaar äquivariant zugeordnet. Die Theorie ist ausführlich auch in dem der Möbius-Geometrie gewidmeten Abschnitt unseres Buches "Projektive und Cayley-Kleinsche Geometrien" dargestellt, das auf dieser Homepage zugänglich ist. Es ergibt sich die Frage, wie man die ziemlich abstrakt definierten, aber verhältnismäßig leicht zu berechnenden Invarianten geometrisch deuten kann. Ein Weg hierzu ist es, die konformen Invarianten durch euklidische Invarianten der Konfiguration auszudrücken. Für Paare von orientierten Hypersphären genügt eine einzige Invariante, um diese Paare bis auf Möbius-Äquivalenz zu charakterisieren, und diese erweist sich als die schon lange bekannte Coxeter-Invariante





in der r, R die Radien der Hypersphären und d die Distanz ihrer Mittelpunkte bezeichnen. In den Notebooks  "Spheres"  sind analoge Formeln für alle Paare einer k- und einer m-dimensionalen Teilsphäre der dreidimensionalen Sphäre in den Fällen 



entwickelt worden, und im Vortrag wurden die recht komplizierten Ausdrücke für die Determinante und die Spur des Operators der Ordnung 2 im Fall k = 0, m = 1 vorgestellt, welche ebenfalls ein vollständiges System von Möbius-Invarianten des Paares bilden. In der euklidischen Geometrie ist ein solches Paar durch 6 Invarianten bestimmt; neben den in der Coxeter-Invariante vorkommenden Größen treten noch drei Winkel auf. Für die Einzelheiten verweise ich auf das Notebook pairs.nb der Serie "Spheres". Der Weg zu diesem Ergebnis sieht jetzt einfacher aus, als er in Wirklichkeit war. Ich hatte zahlreiche Irrtümer und Rechenfehler zu überwinden. Hierbei waren die numerischen Hilfsmittel von Mathematica und natürlich die schnelle moderne Hardware, die uns heute schon auf  den weit verbreiten, nicht einmal besonders modernen Desktops zugänglich ist,  zum Testen der im jeweiligen Stadium vermuteten  Ergebnisse sehr nützlich. In wenigen Minuten kann man etwa 1000 Tests mit zufälligen Parametern rechnen lassen, die einerseits die euklidischen Ausdrücke und andererseits die im pseudo-euklidischen berechneten Determinanten und Spuren vergleichen; nur wenn die Differenzen numerisch Null ergeben (d.h. stabil sehr klein sind), kann man seinen Ergebnissen trauen. Oft vermag Mathematica sehr gut und effizient symbolische Rechnungen durchzuführen und die entstehenden Ausdrücke zu vereinfachen. Mit Hilfe der in "Spheres" entwickelten Module kann man nun einerseits die interessierenden Konfigurationen graphisch darstellen und andererseits mit den gewonnenen Formeln die Invarianten als Funktionen der euklidischen Parameter berechnen und so versuchen, die Invarianten geometrisch zu deuten. Zusammenfassend kann man feststellen, dass Mathematica ausgezeichnete rechnerische und graphische Hilfsmittel zur Verfügung stellt, um direkt oder experimentierend in mathematisches Neuland vorzudringen; das Denken muss jedoch, wie bisher, der Mathematiker selbst besorgen.

1. Fassung 11. Februar 2004, neu bearbeitet 20.12.2008